Fällt die Bezeichnung einer Person als „Antisemit:in” unter die Meinungsfreiheit? In den Medien wird immer wieder darüber gestritten, ob die Bezeichnung einer Person als „Antisemit:in” zulässig oder unzulässig ist. Vor Gericht wägen die Richter:innen die Meinungsfreiheit der bezeichnenden Person gegen das Persönlichkeitsrecht der als „Antisemit:in“ bezeichneten Person ab.
Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit solcher Äußerungen spielen vor Gericht dabei insbesondere folgende Fragen eine Rolle: Handelt es sich um
- eine Tatsachenbehauptung oder
- eine Meinungsäußerung oder
- eine Schmähkritik oder
- eine Meinungsäußerung mit Anknüpfungstatsache;
- außerdem ist rechtlich relevant, ob man an einem Schlagabtausch teilgenommen hat und,
- ob es sich um die Wiedergabe einer wahren Tatsache in einem fehlenden oder falschen Kontext handelt.
Im Nachfolgenden gehen wir auf diese Punkte ein und geben Orientierung, ohne die im Falle eines gerichtlichen Verfahrens zu treffende Abwägung im Einzelfall zu diskutieren.
I. Tatsachenbehauptung oder Meinungsäußerung
Tatsachenbehauptung
Ob eine Aussage als Tatsachenbehauptung eingestuft wird, hängt wesentlich davon ab, ob sie einer Überprüfung auf ihre Richtigkeit mit den Mitteln des Beweises zugänglich ist. Einfach gesagt: Tatsachen lassen sich beweisen (gestern war Maria beim Arzt). Bei der Bezeichnung einer Person als „Antisemit:in” handelt es sich nicht um eine reine Tatsachenbehauptung, die dem Beweis zugänglich ist. Ob eine Person sich antisemitisch äußert oder handelt, ist eine Frage der Auslegung und dem Moment der Stellungnahme durch den*die Äußernden und somit nicht dem Beweis zugänglich.
Meinungsäußerung
Dagegen sind Meinungsäußerungen durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens gekennzeichnet und können sich deshalb nicht als wahr oder unwahr erweisen. Bei einer Meinung handelt es sich um ein subjektives Werturteil (ich mag Maria nicht), welches nicht dem Beweis zugänglich ist und grundsätzlich durch die Meinungsfreiheit geschützt ist. Meinungen sind damit Äußerungen oder Wertungen, die man teilen oder verwerfen kann. Bei der Bezeichnung einer anderen Person als „Antisemit:in” handelt es sich um eine Meinungsäußerung.
II. Schmähkritik
Relevant bleibt aber, ob die "Meinungsäußerung" zulässig ist. Denn die Meinungsfreiheit gewährt das Grundgesetz nicht schrankenlos. Meinungsäußerungen können unzulässig sein, wenn es sich um Schmähkritik handelt. Fraglich ist, ob die Äußerung jemand sei „Antisemit:in“ eine Schmähkritik darstellen kann.
Bei einer Schmähkritik steht nicht die sachliche Auseinandersetzung, wie bei einer grundgesetzlich gewährleisteten Meinungsäußerung, sondern die Diffamierung der betroffenen Person im Vordergrund (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.06.1990, Az.: 1 BvR 1165/89, BVerfG, Beschluss vom 14. Juni 2019, Az.: 1 BvR 2433/17). Ehrverletzende Äußerungen, die evident nicht im Kontext sachlicher (politischer) Auseinandersetzung stehen, sondern in erster Linie der Diffamierung einer Person dienen, sind schon der Form nach als herabwürdigende Schmähung grundsätzlich unzulässig. Das Grundrecht des*der Äußernden auf Meinungsfreiheit muss in solchen Fällen grundsätzlich zurücktreten, ohne dass es einer weiteren Abwägung der Rechte des Äußernden und des von der Äußerung Betroffenen bedürfte (vgl. BVerfG, a. a. O.; Beschl. v. 8.4.1999 - BVERFG Aktenzeichen 1BVR212693 1 BvR 2126/93 - NJW 1999, NJW Jahr 1999 Seite 2358; BGH, Urt. v. 5.12.2006 - BGH Aktenzeichen VIZR4505 VI ZR 45/05 - NJW 2007, NJW Jahr 2007 Seite 686; siehe auch BGH, Urt. v. 23.6.2009 - BGH Aktenzeichen VIZR19608 VI ZR 196/08 - BGHZ 181, BGHZ Band 181 Seite 328; Urt. v. 22.9.2009 - BGH Aktenzeichen VIZR1908 VI ZR 19/08 - NJW 2009, NJW Jahr 2009 Seite 3580).
Die Instanzgerichte und das Bundesverfassungsgericht entschieden in einem Rechtsstreit, dass die Bezeichnung von Xavier Naidoo als „Antisemit” keine Schmähkritik darstellte (BVerfG, Beschluss v. 11.11.2021, Az.: 1 BvR 11/20), da es sich um eine sachliche Auseinandersetzung mit vorhergehenden Äußerungen des Sängers handelte (vgl. unten). Wäre der Kontext ein ganz anderer, sachfremder, könnte dies anders beurteilt werden.
III. Meinungsäußerung mit wahrer Anknüpfungstatsache
Wenn eine Meinungsäußerung einen objektivierbaren unwahren oder keinen Tatsachenkern enthält (Anknüpfungstatsache), kann sie ebenfalls unzulässig sein. Dabei ist insbesondere maßgeblich, ob die in den Werturteilen enthaltenen Tatsachenbehauptungen zutreffen bzw. ohne jeden Anhaltspunkt aufgestellt worden sind (BVerfG, Beschluss vom 09.10.1991 - 1 BvR 1555/88, Rn. 60). Eine Meinungsäußerung, deren objektivierbarer Tatsachenkern unzutreffend ist, kann demnach unzulässig sein. Dasselbe gilt, wenn es überhaupt keinen Anknüpfungspunkt gibt. #
Bei einer Bezeichnung einer Person als Antisemit:in wird es in der Regel darauf ankommen, ob eine wahre Anknüpfungstatsache vorliegt, die die Bezeichnung als Antisemit:in rechtfertigt. Wann eine Tatsache ein berechtigter Anknüpfungspunkt dafür ist, sich die Bezeichnung als Antisemit:in gefallen lassen zu müssen, ist eine Entscheidung des Einzelfalls.
In einem Fall ging das Landgericht München davon aus, dass wahre Anknüpfungstatsachen von der Person bewiesen werden müssen, die eine andere Person als „Antisemit:in” bezeichnet.
Es führt aus:
In der gebotenen Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Klägers und der Meinungsäußerungsfreiheit der Beklagten ist daher entscheidend, ob die Beklagte über ausreichende Anhaltspunkte und Anknüpfungstatsachen verfügt, aus denen sich entnehmen lässt, dass der Kläger für Äußerungen bekannt ist, aus denen sich eine antisemitische Überzeugung oder Einstellung des Klägers in dem unter Ziffer 2. geschilderten Sinne entnehmen lässt.
Was gilt aber als ausreichende Anknüpfungstatsache? Das ist Auslegungssache, hängt vom Einzelfall und Kontext ab, und ist nicht so leicht zu beantworten. In zwei von uns geführten Prozessen gegen den Tagesspiegel konnte der Tagesspiegel keine wahren Anknüpfungstatsachen für den Antisemitismusvorwurf beweisen (vgl. LG Berlin, Beschluss v. 19.03.2024, Az.: 27 O 68/24 und LG Berlin, Beschluss v. 19.03.2024, Az.: 27 O 100/24).
Bei der Abwägung, ob die Bezeichnung einer Person als „Antisemit:in“ an Tatsachen anknüpfen kann, wird die Definition von Antisemitismus relevant. Für die Auslegung, ob eine wahre Anknüpfungstatsache vorliegt, ob die Äußerung einer als „Antisemit:in“ Bezeichneten wiederum antisemitisch sind, greifen die Gerichte unter anderem auf die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance, der IHRA-Definition von Antisemitismus zurück, die auch Beispiele für israelbezogenen Antisemitismus aufführt (vgl. LG München Urteil v. 19.1.2018 – 25 O 1612/17, BeckRS 2018, 2691 Rn. 65, beck-online; OLG Nürnberg, Urteil v. 22.10.2019 – 3 U 1523/18).
Folgende Beispiele geben Aufschluss über aktuelle rechtliche und politische Diskussionen:
Wenn die Aussagen der bezeichneten Person selbst strafbar sind, wie es das LG Berlin in einem umstrittenen Fall bei der Parole „From the River to the Sea, Palestine will be Free“ annahm und diese als ein Kennzeichen der Terrororganisation Hamas einstufte, liegt wohl eher eine wahre Anknüpfungstatsache vor, die die Bezeichnung rechtfertigt (vgl. LG Berlin, Urteil v. 08.11.2024, Az. 502 KLs 21/24).
Personen, die sich kritisch gegenüber der Politik der israelischen Regierung oder dem Krieg in Israel und Gaza etwa auf Instagram und in den sozialen Medien äußern, werden teilweise als „Antisemit:in“ oder ihre Äußerungen als „antisemitisch“ bezeichnet. Ob die Bezeichnung von Personen als „Antisemit:in“, weil diese beispielsweise in einem Beitrag „Ceasefire Now“ („Feuerpause jetzt“) fordern, einen ausreichenden Tatsachenanknüpfungspunkt darstellen kann, ist fraglich. Hierzu liegen uns bisher keine Gerichtsurteile vor. Die alleinige Forderung nach einer Feuerpause ist jedoch nach unserer Auffassung kein ausreichender Anknüpfungspunkt, der eine Bezeichnung einer Person als „antisemitisch“ zulassen würde.
Ebenso haben sich die Gerichte bisher nicht mit der Frage befasst, ob die Bezeichnung einer Person, die das Vorgehen des israelischen Militärs in Gaza als „Genozid“ darstellt oder bezeichnet, als „Antisemit:in“ von der Meinungsfreiheit gedeckt ist oder ob das Persönlichkeitsrecht in der Abwägung Vorrang hat. Hier bleibt abzuwarten, wie die Gerichte mögliche Fälle bewerten. Wie oben gezeigt, kommt es aber auch auf die Öffentlichkeit der Äußerung, die sonstigen Äußerungen der/des Bezeichneten und den Kontext im Einzelfall an. Der Verlauf des Krieges zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels unter Berücksichtigung des noch laufenden Verfahrens vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) sowie der Äußerung von Verfassungsrechtler:innen legt es nahe, dass die Bezeichnung des Vorgehens Israels im Gaza als „Genozid“ eine Bezeichnung der äußernden Person als „Antisemit:in“ nicht allein rechtfertigt. Andererseits schätzen Vertreter der Bundesregierung (Auswärtige Amt) den Einsatz noch nicht als Genozid ein.
IV. Wer austeilt, muss auch einstecken können
In seinem Beschluss vom 11. November 2021 führte das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Frage, ob sich Xavier Naidoo als „Antisemit“ bezeichnen lassen müsse aus, dass er dies müsse, da er durch seine eigenen öffentlichen Aussagen Anlass zu dieser Bezeichnung gegeben habe. Dies ist an sich nichts anderes als eine Anknüpfungstatsache. Wer in der Öffentlichkeit überspitzte, polemische oder strittige Aussagen trifft, muss daher die Reaktionen darauf hinnehmen.
Zudem muss, wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert (vgl. BVerfGE 12, 113 <131>; 24, 278 <286>; 54, 129 <138>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 10. März 2016 - 1 BvR 2844/13 -, Rn. 25).Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat sich mit seinen streitbaren politischen Ansichten freiwillig in den öffentlichen Raum begeben. Er beansprucht für sich entsprechend öffentliche Aufmerksamkeit (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 1094/19 -, Rn. 25). Schon deshalb liegt die Annahme, die Aussage der Beschwerdeführerin habe eine Prangerwirkung, völlig fern. Ihm mit Hinweis auf sein Bestreben nach öffentlicher Aufmerksamkeit und eine Abhängigkeit von der Zustimmung eines Teils des Publikums den vom Berufungsgericht beschriebenen besonderen Schutz zuteilwerden zu lassen, hieße Kritik an den durch ihn verbreiteten politischen Ansichten unmöglich zu machen. Zur öffentlichen Meinungsbildung muss eine daran anknüpfende Diskussion möglich sein.
V. Wiedergabe des falschen Kontextes
Das BVerfG hat in seinem Beschluss außerdem auf die Bedeutung des Kontexts und auf die Begleitumstände einer Äußerung hingewiesen. Mit Urteil vom 28.05.2024 (Az.: 16 U 169/22) hat das OLG Frankfurt am Main eine presserechtliche Entscheidung zur Zulässigkeit der Wiedergabe von Zitaten ohne Kontext getroffen. Demnach kommt es darauf an, ob die Äußerung der Person, die als „Antisemit:in“ bezeichnet wird und an die angeknüpft wird, im richtigen Kontext wiedergegeben wird. Siehe hierzu auch unseren Beitrag.